Das Haus an der Doktorgasse

Texte und Berichte zu Polle

Das Haus an der Doktorgasse.


von

Karl Eberhard Bruns

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Ich sitze auf dem Treppenabsatz, bestückt mit Sessel und Tisch, zwischen Erdgeschoss und 1. Obergeschoß und habe den Blick auf die Mittelstraße gerichtet. Das Fenster, aus dem ich schaue, hat für viele Menschen Schicksal bedeutet.


Es ist geschafft. Wir haben den Kaufvertrag unterschrieben für das Haus meines Großvaters an der Doktorgasse. Eigentlich schade, da hier auch für mich viele schöne Erinnerungen an Kindheit und Jugend lagen. Der Käufer wollte seinen Lebensabend unbedingt im Haus des Sanitätsrats verbringen. Ihm sind dann wohl auch noch einige schöne Jahre in diesem Haus beschieden gewesen.


Doch nun zum Anfang meiner Geschichte des Hauses meines Großvaters, das von seiner Errichtung bis zum Jahre 1955 nur Ärzte beherbergte.


Der im Jahre 1856 geborene spätere Sanitätsrat Dr. M., von dem hier die Rede sein soll, hat sich wohl um das Jahr 1885 in dem kleinen Marktflecken an der Oberweser als Arzt und Geburtshelfer niedergelassen. Er nahm Wohnung und Praxisräume bei dem größten Holzhändler und Sägewerksbesitzer am Ort. Nun konnte der Gemeindediener bekannt geben, wie das damals üblich war: „Es wird bekannt gemacht, Herr Dr. Karl M. hat sich als Arzt bei uns niedergelassen und übt seine Praxis bei Herrn Z. in der Pyrmonter-Straße aus.“


Bei seinen vielen Hausbesuchen kam dann mein Großvater auch eines Tages zur Familie B., die eine außergewöhnliche hübsche Tochter hatte. Ihm mußte diese Maid wohl sehr gefallen haben, denn schon im Jahr 1889 hörte man den Gemeindediener ausrufen:“ Unser Dr. M. will die allseits bekannte Jungfer Helene heiraten. Wer dagegen Einwände hat, soll sich beim Bürgermeister melden.“ Die Hochzeit wurde dann auch bald gefeiert und als im Jahre 1894 eine gesunde Tochter das Licht der Welt erblickte, wurde die Wohnung dort zu klein und man plante den Bau eines Hauses.


Der Bauplatz war bald gefunden und da der Doktor aus einer Ingenieurs-und Baumeister-familie stammte, war auch schnell ein Architekt zur Hand. Der Vater gleichen Namens wurde mit der Planung und Durchführung des Baus beauftragt. Wie sich jeder Leser überzeugen kann, entspricht dieses Haus auch immer noch heutigen Erfordernissen, wenn man Pferdestall und Remise als Garagen umfunktionieren würde, wären genügend Einstell-plätze für Pkws der Familie vorhanden. Die Praxisräume könnte man im Erdgeschoß um Küche und andere Räume erweitern.

Abbildung oben: “Das Haus an der Doktorgasse”; Quelle: unbekannt

Doch nun zurück zum Doktor. Er betreute seine Patienten, die hauptsächlich Bauern, Landarbeiter und Häusler waren, fast rund um die Uhr. Täglich nach der Sprechstunde und dem Mittagessen musste Kutscher Doormann anspannen und es ging über die Dörfer - die Bevölkerung in dieser Region wird heute von ca. 7 Ärzten betreut – zu den Hausbesuchen, um die die Patienten meist durch Boten gebeten hatten.


Oft hatten die Patienten auch weder die Geldmittel noch die Möglichkeit, die verschriebenen Medikamente zu bezahlen und in der einzigen Apotheke abzuholen. Da war der Doktor sehr unkompliziert. Wenn es um seine Patienten ging, besorgte er die Arzneien, brachte sie beim nächsten Hausbesuch mit und hat sie auch manchmal selber bezahlt.


Zu dieser Zeit gab es in dem von meinem Großvater betreutem Gebiet noch keine zahnmedizinische Versorgung. So oblag ihm auch dieses Teilgebiet der Medizin. Bei Zahnschmerzen seiner Patienten wurde nicht lange gefackelt. Der Zahn wurde einfach gezogen und für diese Leistung ein Goldstück kassiert.

Abbildung oben: Familie Sanitätsrat M. - Originalfoto (1906)

Sollte einmal ein Patient sehr krank sein, das Pferd ausgepumpt und der Weg nicht zu weit, machte sich der Doktor nachts auch zu Fuß auf den Weg. Später erleichterte das Fahrrad diese Situation ganz erheblich.


Aufgrund der Verdienste um die Gesundheit der Menschen seine Region verlieh der Kaiser etwa um 1900 meinem Großvater den Titel eines Sanitätsrats. Besonders stolz hierauf war seine Frau, die fortan Frau Sanitätsrat in der Bevölkerung genannt wurde. Sie sprach aber auch den Patienten gegenüber immer von dem Herrn Sanitätsrat.


Ein besonderes Ereignis, das auch ein Licht auf die Situation eines  Landarztes in dieser Zeit wirft, muß noch angefügt werden. Eines nachts kam der Knecht des reichsten Bauern aus der Nachbargemeinde und klingelte an der Nachtglocke. Wie in solchen fällen üblich, ging die Frau Sanitätsrat an jenes Fenster, an dem auch ich jetzt sitze, und fragte nach dem Begehren des Ankömmlings. „Der Herr Sanitätsrat solle doch bitte noch einmal zu dem Herrn Blume kommen. Es sei sehr wichtig.“ Daraufhin meine Großmutter:“ Ich kann den Herrn Sanitätsrat nicht wecken, er hatte morgens Sprechstunde und war den ganzen Tag mit Krankenbesuchen beschäftigt. Und außerdem war er doch heute schon bei deinem Herrn,“ Der Knecht aber ließ nicht locker bis auch der Herr Sanitätsrat aufgewacht und ans Fenster gekommen war. Er ließ sich dann doch überreden und fuhr mit dem Fahrrad zu seinem Patienten.


Dieser nun seinerseits beteuerte, dass er meinem Großvater keine Ungelegenheiten hätte machen wollen, aber sein Anliegen sei doch so wichtig. Der Bauer sagte nun: „Herr Sani-tätsrat, ich weiß nun, dass ich sterben muss und bitte Sie herzlich, meinen Nachlaß zu ver-teilen. Er übergab meinem Großvater die Schlüssel für den Geldschrank im Wohnzimmer mit den Worten: „ Herr Sanitätsrat, so wie Sie es maket, solls recht sin.“


Leider verstarb mein Großvater schon im Jahre 1915. Meine Großmutter, die bis zu ihrem Tod in der Gegend die Frau „Sanitätsrat“ blieb, stand praktisch ohne Versorgung da. Einzig das Haus war ihr verblieben, da das wenige Ersparte während der Inflationszeit verloren ging.


Es wurde damals erst einmal Sommergäste aufgenommen und verpflegt. Das Haus bot Platz für mehrere Erholungssuchende. Es vergingen noch einige Jahre ohne ärztliche Versorgung, da die jungen Ärzte zum Kriegsdienst eingezogen waren. Nach dem Krieg ließ sich ein junger Arzt nieder und praktizierte im Gasthof des Ortes, in dem er auch wohnte.


Dies fand meine Großmutter gar nicht gut. So kam es denn, daß der neue Doktor – der forthin der kleine Doktor hieß – in den Räumen des Sanitätsrates seine Praxis einrichtete und später auch ins Haus zog, wohlversorgt von den guten Geistern des Hauses und der Frau Sanitätsrat.


Die Besuche auf den umliegenden Dörfern wurden nun mit dem Fahrrad und dem Motorrad erledigt.


Mitte der 20iger Jahre schaffte sich der kleine Doktor das erste Auto an, das in der Remise untergestellt wurde. Notwendig werdende Reparaturen, wie das Auswechseln von Brems-belägen oder Kupplungsscheiben, besorgte der einzige im Ort ansässige Uhrmacher mit viel Geschicklichkeit. Eigens zu diesem Zweck wurde im Hof eine Grube errichtet, damit  man auch richtig unter dem Auto arbeiten konnte.


Die täglichen Fahrten über die Dörfer waren für die in den Ferien anwesenden Kinder – insbesondere für mich – immer ein ganz besonderes Erlebnis. Der Onkel Doktor, der damals noch nicht verheiratet war, spielte in den Ferien für mich eine große Rolle. Später, in den dreißiger Jahren hatte sich viel gewandelt. Das Einkommen der Ärzte war höher geworden, man konnte sich eine Jagd leisten und auch Gäste einladen.


Doch dann hatte der kleine Doktor wohl sehr viel gespart, daß er sich ein eigenes Haus leisten konnte. Da meine Großmutter ihm unser Haus nicht verkaufen wollte, zog er eines Tages in die Nähe der Kreisstadt und eröffnete dort im eigenen Haus eine Praxis.


Nun war guter Rat teuer! Da die einzige Einnahme meiner Großmutter – der Mietzins aus dem Haus in Höhe von 50,- Reichsmark – wegfiel, musste sie sich nach einem neuen Mieter umsehen. Doch das Haus und ihre Besitzerin  hatten Glück. Der im Ort ansässigen Zahnarzt, der inzwischen verheiratet war, suchte eine Unterkunft und neue Praxisräume. So zog er dann in das Haus an der Doktorgasse, um dort seine Patienten zu behandeln.


Während des 2. Weltkrieges wurde meine Mutter – die Tochter der Frau Sanitätsrat – ausgebombt und zog wieder in das Haus ihres Vaters, das für alle genügend Platz bot.


Am Ende des Krieges, in den ersten Tagen der Besatzung, ging dann meine Großmutter, bei der auch andere vor den Bomben geflohen und Unterschlupf gefunden hatten, zu den Bauern, um wie damals üblich, Lebensmittel zu hamstern. Bei diesen Besuchen war sie für die Leute in der Gegend noch immer „die Frau Sanitätsrat“, die überall etwas bekam, da ihr Mann früher allen geholfen hatte.


Als der Zahnarzt dann eines Tages seine Praxis aufgeben musste und in die nahe Großstadt zog, war für unsere Familie das Problem nicht mehr so groß, da zu dieser Zeit auch meine Großmutter verstarb. So kam es zu dem Verkauf des Hauses an der Doktorgasse, der kurz zu Anfang dieses Artikels beschrieben wurde.


 


Autor: Karleberhard Bruns

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