Das ehemalige Amt Polle
Das ehemalige Amt Polle
Kaum ein Gerichtsbezirk im ehemaligen Königreich Hannover hatte so verschiedene Grenznachbarn, als der Amtsbezirk Polle. Er grenzte südlich an Preußen (Westfalen), westlich an Lippe-Detmold, nordwestlich an die waldecksche Grafschaft Pyrmont, nördlich und östlich an das Herzogtum Braunschweig. Ein kleiner abgetrennter Teil, die Dorfschaft Pegestorf mit ihrer Feldmark, hing mit dem ebenfalls eine Enklave bildenden Stadtgebiete von Bodenwerder zusammen.
Keine Gegend des hannoverschen Landes übertrifft das Amt Polle an Naturschönheiten. Wer sich an einer großartigen Aussicht erfreuen will, die manchen Rheingegenden nichts nachsteht, der fahre von Heinsen bis Bodenwerder die Weser abwärts. Das bisher weite, prachtvolle Flusstal verengt sich hier zum mäßig schmalen Passe. Lieblich grüßende Wiesen und mit Vieh bestandene Weiden durchwogt der Strom, indem er voller hier und mächtiger erscheint in der beschränkten Umgebung. Der lebhafte Wasserverkehr und Schiffbau des Dorfes Heinsen macht dieser werktätigen Talgegend, den Charakter des Idyllischen streitig. Weiter wird jetzt das Tal. Mächtige Berge lagern sich hintereinander, die nächsten tauchen gleichsam ihren Fuß in die kühlen Wellen, und ihre waldreichen Formen treten in klarer Bestimmtheit hervor, während die ferneren Höhenzüge lichtblau umschlossen sind. Düster ragt mit krausen Linien der waldige Vogler empor und schließt im Norden das herrliche Landschaftsbild kraftvoll ab. Im Südwesten erblickt man den mit einer kühn gewölbten Kuppe hochragenden Köterberg, den Brocken des Weserberglandes. Neben dem ehemaligen stattlichen Amtshause türmt sich terrassenartig der Flecken Polle empor, nur überragt von dem nahen burggekrönten Berggipfel. Die Weser hat sich zwischen den Dörfern Reileifzen und Grave durchgewunden, der Glanzpunkt des ganzen Wesertales erscheint: die Steinmühleklippen. Aus den Klüften des seltsamen Bergmassivs brechen klare Quellen und schäumende Gießbäche hervor; hier hängt die klappernde, urkundlich bereits 1266 erwähnte Steinmühle wie ein ein leck an die Felswand gebautes Schwalbennest; die das bemooste Naß antreibende Quelle ist seit jener Zeit noch niemals versiegt. Breitbeschwingte Raubvögel umstreifen krächzend die Felskegel – kurz, ein unbeschreiblich anziehendes Landschaftsbild.
Der Anblick der Burgruine Polle erinnert uns an vergangene Herrlichkeit. Die Ruine ist im ganzen gut erhalten. Wieviel auch die Tillyschen und schwedischen Kanonen davon zerstörten und wie viel auch der Zahn der zeit daran nagte, so ist doch manches noch geblieben, was den die Heimatkunde liebenden Geschichtsforscher und Schriftsteller auf die frühere Einrichtung des festen Schosses schließen lässt. Der Umfang der eigentlichen Burg ist nicht so ausgedehnt, wie der mancher anderer Burgen; er beträgt durchschnittlich 30 mal 20 Meter. Die freundliche, reizvolle Umgebung und die herrliche Aussicht, welche man von den Trümmern aus nach allen Seiten genießt, geben indessen der Burg zu Polle vor vielen anderen Schloßruinen einen großen Vorzug.
Das ehemalige Amt Polle, welches fast überall bergig ist, bedeutende Waldungen im Süden enthielt, und dem bewohnten Theile nach auf einen verhältnismäßig kleinen Raum beschränkt war, umfaßte im Jahre 1850 vierzehn Ortschaften mit 4467 Einwohnern. Aus dem urkundlichen Dunkel tritt diese Gegend zuerst durch die Beschreibung des vorjährigen Eroberungskrieges den der fränkische Kaiser Karl der Große (768 – 814) gegen die heidnischen Sachsen geführt hat. Der Schauplatz seines zweiten sächsischen Feldzuges fällt ziemlich in die Nähe von Polle. Bei dem heutigen Lobach, einem hart unter der Burg Everstein gelegenen braunschweigischen Dorfe, ließ der Frankenkaiser einen Teil seines Heeres stehen, um mit dem anderen nach der Oker zu marschieren. Nach der Skidroburg (casrum Saxonum), dem jetzigen Schieder, wurde im Winter 784 die Hofhaltung des kaiserlichen Sohnes, Ludwig des Frommen, gelegt, und in dem nahen Lügde (villa Lindiki) feierte letzterer 785 das Weihnachtsfest. Als Kaiser Karl die Sachsen sich unterwarf, wurde das Land nach fränkischer Weise in Gaue (Gerichtsbezirke) geteilt, denen Grafen als Richter vorgesetzt wurden. Zum Gau Auga und zur Paderbornschen Diözese gehörte der südliche Teil des ehemaligen Amtsbezirkes; der übrige, größere Teil zum Gau Tilithi und zur Diözese Minden. Die Grenzlinie ging unterhalb Heinsen durch, dann über den Köterberg fort bis an die Emmer. An der östlichen Seite gehörten noch mehrere, jetzt braunschweigische Ortschaften am rechten Weserufer, wie Rühle, Dölme, Reileifzen, aus denen der Bischof von Minden den Zehnten bezog, mit in den Gau Tilithi. Der Vogler (Fugleri) bildete hier die Grenze gegen den Gau Wikangfelde und Diözese Hildesheim.
Die karolingischen Einrichtungen verloren bald immer mehr an Festigkeit und Geltung, als die starke Hand fehlte, die das Ganze zusammenhielt. So war es besonders hinsichtlich der Gauverfassung. Unter den Dynasten erscheinen die von Everstein seit dem Jahre 110, dann als Grafen von Everstein zuerst in einer Urkunde von 1142 als reich begüterte Herren, namentlich im ehemaligen Amtsbezirk Polle. Wann die Grafen von Everstein in den Besitz von Polle gelangten, steht nicht fest. 1285 nahmen sie ihren Wohnsitz im Schlosse Polle. Eine in diesem Jahre ausgestellte Urkunde, worin ein Graf Otto seine von dem Grafen von Schwalenberg erworbenen Güter in Gestorf dem Kloster Loccum überließ, tragen wie auch andere, später ausgestellte Urkunden das „datum in castro nostro Poll“. Das zwischen Polle und Stadtoldendorf gelegene Schloß Everstein, ihre bisherige Wohnstätte, hatte sie in demselben Jahre veräußert, und auch das Schloß Holzminden nebst der Stadt traten sie damals für 2000 Mark Silber an den Erzbischof Siegfried von Köln ab. Festgestellt ist, daß sie schon früher einen dem Schlosse zugerechneten Bezirk besaßen.
Nachdem der willensstarke mächtige Herzog Heinrich der Löwe in die Reichsacht getan und seines Herzogtums verlustig erklärt war wurden die meisten abhängigen Edlen des Herzogs tatsächlich unabhängig. Zu diesen unabhängigen gewordenen Adeligen gehörten auch die Grafen von Everstein. Sie hatten völlige Landeshoheit, seitdem sie urkundlich Polle besaßen. Auch später standen sie gegen die Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis. In dieser fehdereichen Zeit scheint das Verhalten der Eversteinschen Grafen gegen die Welfen sehr schwankend gewesen zu sein. Nicht nur verwandtschaftliche Verhältnisse, sondern in erster Linie die ihren Besitzungen drohende Gefahr, die sich besonders 1178 bei einem Kriegszuge des Erzbischofs Philipp von Köln an die Weser ergab, mag die betreffenden Grafen bestimmt haben, damals auf die Seite des Hohenstaufen zu treten.
Im Laufe der Zeit waren die Eversteinschen Besitzungen u. a. auch durch fromme Abgaben an Klöster stark zusammengeschmolzen. Bei weitem mehr aber noch war von den außerhalb der Herrschaft Polle gelegenen Gütern verloren gegangen nicht allein durch unglückliche Fehde, sondern auch durch Veräußerungen und Verpfändungen. Immerhin waren die Güter noch sehr ansehnlich, als außer einem unverheiratet gebliebenen Bruder, Graf Hermann VIII., als einziger Sproß der Familie zu Ende des 14. Jahrhunderts ohne legitime Erben lebte. Graf Hermann schloß nun eine Erbverbrüderung mit Simon und Berend, Herren zu Lippe am 6. Juni 1403 wodurch eine ewige Vereinigung der beiderseitigen Länder beabsichtigt war. Graf Hermann nannte sich nun: Graf von Everstein und Herr zur Lippe, und die lippischen Herren führten fortan den Titel: Herren oder Junker zur Lippe und von Everstein. Dem Grafen wurde übrigens bald darauf eine Tochter geboren. So bündig auch der Vertrag gemacht war, gelang es den Lippern doch nicht die Eversteinsche Herrschaft zu erhalten. Sie kam vielmehr an die Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg.
Die Uebertragung der Grafschaft an dieses Herrscherhaus, obgleich im Grunde ein „verhasstes Müssen“, war der Form nach eine freiwillige Zession, veranlasst durch die Fehde der Herren von der Lippe mit den braunschschweigisch-lüneburgischen Herzögen zu Anfang des 15. Jahrhunderts, die mit dem Siege der endete.
Am 8. Februar 1407 wurde das Schloß Polle erobert. Herzog Heinrich erstieg als erster die Mauern zur Nachtzeit, als die Besatzung keinen Angriff erwartete. Auch das Städtchen Horn wurde eingenommen und das Schloß Falkenberg verwüstet. Ueberall wurden große Verheerungen angerichtet. Tapfer kämpften die Belagerten, unter denen sich der alte Junker Simon besonders bewährte. Er nötigte sogar die Feinde zum Abzuge aus seinem Ländchen. Da Graf Hermann fürchten mußte, bei dem Ringen mit der Uebermacht alles zu verlieren, schloß er Frieden mit den Herzögen in Hameln am 20. Januar 1408. In dieser Uebereinkunft verlobte er seine einzige Tochter Elisabeth (Elsabe) mit dem Welfenherzoge Otto von der Heide, Herzogs Bernhard Sohn, und verschrieb ihr seine Besitzungen Aerzen, seinen Teil an Ohsen, Hämelschenburg, Ottenstein und seinen Teil an Holzminden zum Brautschatz. Das Schloß Polle aber wird nicht mit aufgeführt, die Herzöge hatten es bereits im Besitz und sahen es als eine Eroberung an.
Kurz darauf und geraume Zeit vor der im Jahre 1425 vollzogenen Verheiratung seiner Tochter gab Graf Hermann schon seine Herrschaft zu Everstein ab. Schon im Jahre 1409 handelten die Herzöge als alleinige Herren des Eversteinschen Schlosses zu Ohsen, indem sie es in diesem Jahre an den Grafen von Spiegelberg verpfändeten.
Schon bei der im nächsten Jahre nach der Erwerbung eingetretenen Landesverteilung zwischen den herzoglichen Brüdern Bernhard und Heinrich wurde über die neuerworbenen Güter verfügt. Dem braunschweigischen Teile, welcher dem Herzog Bernhard zufiel, war die Herrschaft Everstein beigelegt worden. Als im Jahre 1425 aufs neue geteilt wurde, wählte Herzog Wilhelm der Aeltere, Herzogs Heinrich Sohn, den braunschweigischen Teil, mit welchem Polle, Aerzen nebst Hämelschenburg, Ottenstein und Holzminden vereinigt blieben. Herzogs Wilhelm Sohn, Wilhelm der Jüngere, teilte
1491 und 1495 sein Land, welches auch das seit 1423 wieder angefallene Fürstentum Göttingen umfaßte, unter seine Söhne: Heinrich dem Aelteren und Erich dem Aelteren. Von dieser Zeit an besteht ein Fürstentum Calenberg, denn diesen Namen bekam Herzogs Erich Anteil. Als ihm die Wahl der gemachten Erbteile anheim gegeben wurde, soll er erklärt haben:
„Dat Land twischen Diester und Leine,
Dat is et rechte, dat eck meine!“
Polle wird unter den erworbenen Bezirken, die dazu gehörten, ausdrücklich aufgeführt – und ist nicht wieder davon getrennt worden. Im Jahre 1620 verschrieb der herzog Friedrich Ulrich zu Braunschweig-Wolfenbüttel „Unser Haus und Ampt Polla“ zur Schadloshaltung den Städten Hameln und Bodenwerder, weil sie sich für ein durch den Herzog aufgenommenes Darlehen von 5000 Talern verbürgt hatten.
Wie für alle Gegenden unseres schwergeprüften Vaterlandes, ist auch für das Amt Polle die Zeit des Dreißigjährigen Krieges eine der bedeutsamsten Perioden seiner Geschichte. Das Schloß wurde von Tilly, als er auf seinem Zuge gegen den Bischof Christian von Halberstadt, „den tollen Christian“, wie ihn der Volksmund genannt, zum ersten Male im Jahre 1625 die Wesergegend heimsuchte, nach heftiger Beschießung erobert. Ein Teil der Amtsgebäude und des Fleckens Polle wurde dabei eingeäschert. Nach der Vertreibung Christians im August 1626 verließ Tilly zwar Niedersachsen, doch nur für kurze Zeit. Der Kampf gegen den König Christian IV. von Dänemark führte den kaiserlichen Feldherrn 1626 aufs neue in die mittlere Wesergegend. Jetzt aber gab er Polle sowie die anderen eroberten Plätze nicht wieder aus den Händen; er wußte zu gut, wie sehr ihm der Kaiser und die katholische Partei verpflichtet waren, als daß er nicht im Ernst hoffte, der Kaiser werde ihn mit dem Fürstentum Calenberg bedenken. Sein Unterbefehlshaber in Hameln nannte 1631 in den ausgestellten Empfangsbescheinigungen den Amtmann Ludewig zu Polle nur „den Hochgräflich Tillyschen Amtmann“. Nach Tilly führte Picclomini den Oberbefehl über die kaiserlichen Truppen in dieser Wesergegend. Selbst nach den großen Siegen der Schweden unter König Gustav Adolf 1631 bei Leipzig und bei Lützen am 6. November 1632 haben sie Polle nicht in ihre Hand bekommen, obgleich sie im Jahre 1634 zu Bevern und in dem so nahe gelegenen Amte Forstlängere Zeit sich aufgehalten haben. Auch im Jahre 1641 noch hatten die kaiserlichen Truppen ihre Winterquartiere im Amte; zu dieser Zeit wurde von Polle aus eine Ueberrumpelung des von den Schweden besetzten Schlosses Pyrmont unternommen. Jedoch der Ueberfall misslang völlig, die vordersten Stürmenden, die den Wall bereits erstiegen, wurden hinabgestürzt, rissen die Nachfolgenden mit hinunter. Diese wichen zurück und konnten sich nur mit genauer Not aus dem durchbrochenen Eise des Schlossgrabens vor dem Ertrinken retten. Nun rückten die Schweden 1641 zur Belagerung des Schlosses P o l e vor. Sie verschanzten sich auf dem Heimberge, wo noch heute ein Platz die Schwedenschanze heißt, und von hieraus wurde das befestigte Schloß von ihnen so heftig bombardiert, daß fast die gänzliche Zerstörung die Folge des Geschützfeuers war. Sämtliche Amtsgebäude lagen in Schutt und Asche.
Wer kann die Verluste aufzählen, die der Amtshaushalt und die Amtseingesessenen durch die zweimalige Verwüstung des Schlosses und das langjährige Hausen der wilden rohen Soldateska erlitten! 1623 waren nach der Einnahme von dem Tillyschen Heere dem Amtshaushalte u. a. 23 Schweine und 29 Schafe, wie eine von dem Amtmann hinterlassenen Notiz sehr treffend sagt, „von dem spanischen Rittmeister und dessen Offiziere gefressen und 50 Faß Bier ausgesoffen“. Alles in allem wurde der damals angerichtete Schaden auf 13 767 Taler spezialisiert. Auch sämtliche Urkunden und Register waren verbrannt. Aus den Notizen des Amtsregisters vom Jahre 1644 geht die große Not deutlich hervor. Da heißt es von einem Vollmeier in Brevörde: „hat in 6 Jahren kein lebendig biest gehabt, jetzt 1 Pferd, so ganz räudig, ist abgebrannt, der Hof wüste nur daß er einen kleinen Spieker hat, darin er zur Not wohnt.“ Von einem anderen Vollmeier: „hat 6 bis 7 Jahre wüst gelegen, zieht fürm Schiff, daß er soviel erwirbt, daß er sich des Hungers wehrt.“
Der ganze Zeitraum vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Siebenjährigen Kriege 1756, der merkwürdige politische Schicksale für das Amt P o l l e nicht aufzuweisen hat, ist daher mit dem Streben ausgefüllt, die Spuren zu verwischen, welche ein so beispielloser Gräuel der Verwüstungen überall hinterlassen hatte. Manches geschah schon unter der Regierung des Herzogs Georg Wilhelm von Hannover. Um die Einwohner zum Bebauen der wüsten Höfe zu ermuntern, bewilligte die Kammer freies Bauholz und eine zweijährige Steuerfreiheit.
Auch der Siebjährige Krieg führte, wenn auch das Amt Polle ein Schauplatz seiner Schlachten nicht war, sehr große Bedrückungen und Nachteile für die Landbewohner herbei. Das schlimmste Jahr war das Jahr 1757, als die Franzosen nach der unentschiedenen Schlacht von Hastenbeck am 26. Juli 1757 in der Umgegend von Hameln bis Polle einrückten und die Winterquartiere bezogen. Eine im Archiv vorhandene Bekanntmachung des Herzogs von Broglie vom 30. Juli befiehlt, daß alle im Amte Polle befindlichen Wagen und aller Vorspann bei Strafe militärischer „Erekution“ sich noch an demselben Abend bei der zu Klein - Berkel stehenden französischen Armee einfinden solle. Aber der französische General de Luce bereits alles weggenommen hatte, konnte der Amtmann Wyneken nicht mehr als vier Wagen auftreiben. Sehr oft behielten auch die Franzosen die Wagen und Pferde für sich und schickten die Bauern ohne Gespann nach Hause. Starke Einquartierungen erlitt besonders der Flecken Polle, in welchem einmal 2500 Mann und 700 Pferde vierzehn Tage lang untergebracht waren. Die Landsleute verbargen ihr Vieh häufig in dem nahen Walddickicht, und man erzählt sich noch in der Poller Gegend, daß sogar die Kühe den Ruf: „die Franzosen kommen!“ am Ende gekannt hätten und selbst auf dieses Angstgeschrei dem nahen Walde zugeeilt wären. Bedeutende Brandschatzungen und Gelderpressungen von Seiten der französischen Generale verschlangen große Summen. Beim Abmarsch der französischen Truppen im April 1758 wurde der ganze Schaden der Amtseingesessenen zu 24 300 Taler, der des Amtshaushalts zu 2 800 Taler berechnet.
Ueber die Zeit der französischen Landbesetzung 1803 – 1813 Näheres mitzuteilen, erübrigt sich. Das Verfahren der napoleonischen Gewalthaber war überall so ziemlich dasselbe. Der Krieg Niedersachsens gegen den fränkischen Napoleon berührte das Amt Polle. Er hat seinen Namen von der hohen Lage; denn Poll bezeichnet im Niederdeutschen: Kopf, den höchsten Punkt eines Dinges. In Reinerbeck bei Aerzen sagten früher die Einwohner von einem Bauern, dessen Haus auf einem Hügel im Dorfe lag: „hei wohnt upp dem Polle“. Das Schloß oder die Burg, wodurch der Flecken benannt worden ist, lag auf der Spitze des Berges. In alten Urkunden wechselt häufig die Schreibart zwischen Poll, Polle, Polla, einmal, 1394, sogar Pohl. Die Zeit der Erbauung der Burg ist bekannt. Das Schloß wird erst urkundlich genannt seit 1285, wo die Eversteiner hier seßhaft waren. Erst im Jahre 1313 findet sich in einer Urkunde des Grafen Ludwig von Everstein über eine Schenkung an das Kloster Gerden eine Spur, daß hier eine Gemeinde vorhanden war, denn diese Urkunde ist in Polle unterzeichnet. Eine Kirche hier im Dorfe war aber noch nicht genannt. Die Kirche St. Paul stammt aus der Zeit gegen Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Gemeinde ging bis dann in die Brevörder Kirche. Im Jahre 1874 war Polle bereits zu einem ziemlichen Umfange gelangt, war ein sog. Flecken mit einem Rat und Magistrat. Das Fleckenrecht zeigt sich auch in dem Vorhandensein der Brauergilde, der Schuhmacherzunft und anderen Gilden im Orte. das Amtshaus ist nach Zerstörung des Schlosses im Dreißigjährigen Kriege neben dem Schlossberge aufgeführt und, wie eine Jahreszahl am Torwege zeigt, im Jahre 1656 vollendet. Das über dem Tore befindliche, rätselhafte Wappen ist ein Geschlechts-Doppelwappen, das für Heraldiker von großem Interesse ist. Hauptsächlich herrscht in den verschiedenen Wappenbildern der Braunschweig-Lüneburgsche Löwe vor.
Der heutige Ort Polle mit z. Zt. 1170 Seelen hat sich infolge seiner reizvollen Lage und seines neuzeitlichen Strandbades zu einer der besuchtesten Sommerfrischen der Oberweser entwickelt, und ist immer mehr bemüht, den Sommergästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Gute Gasthöfe und eine Reihe vorzüglicher Privathäuser, die zum teil auch den verwöhntesten Ansprüchen genügen. sind vorhanden.
G. Poton.
Deister- u. Weserzeitung / Viertes Blatt
Nr. 226 Hameln, Sonnabend, 26. September 1931; 84. Jahrg.
von G. Poton