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Die Grenzbeschreibung des
Amtes Polle von 1706
Von Friedrich Wittkopp
Das Fürstentum Calenberg erlangte im Jahre 1692 unter Herzog Ernst August die Kurwürde. Nach der Vereinigung mit dem Fürstentum Lüneburg (1705) führte es den Namen Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg. Allmählich aber setzte sich die Bezeichnung Kurfürstentum Hannover durch, da Hannover bereits 1636 unter Herzog Georg von Calenberg Residenzstadt geworden war.
Die Kurfürstliche Kanzlei erließ 1699 eine „General-Instruktion“, wonach das gesamte Staatsgebiet, insbesondere jedoch die Staatsgrenzen, zu vermessen und in den Riß zu bringen seien. Diese umfangreiche und verantwortungsvolle Arbeit übertrug die Regierung dem französischen Vermessungsingenieur Couffiers de Bonnivet, genannt de Villiers, der bereits 1698 begonnen hatte. Beendet wurden diese Vermessungen erst im Jahre 1732.
In einer Reihe von Artikeln wurden die Amtmänner und Drosten aufgefordert, die notwendigen Vorarbeiten zu leisten, damit „bey Ankunft des Ingenieurs“ die eigentliche Arbeit beginnen könne. Frühere Grenzbeschreibungen und Urkunden sollten bereitliegen, de Villiers aber auf keinen Fall ausgehändigt werden. Er sollte vielmehr nur einen notwendigen Auszug erhalten. Grenzkundige ältere Personen und umsichtige Messgehilfen sollten jederzeit zur Verfügung stehen. Für ein ruhiges, freies Quartier, nach Möglichkeit nicht in einem Gasthaus -, war Sorge zu tragen. Der Lebensinterhalt sollte „für den genauesten Wert“ oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, „für billige Bezahlung“ berechnet werden. Um weite, zeitraubende und beschwerliche Wege zu vermeiden, musste sich das jeweilige Quartier möglichst in der Nähe der Arbeitsstelle befinden. In Punkt sechs der allgemeinen Anweisung heißt es: „...daß die Dörffer, Klöster, Adeliche Häuser und andere einständige Höfe. Pässe, Zollstedte, Flüsse und vornehmste Bäche, Mühlen, Holtzungen, Berge, Brüche, Moraste und dadurchgehende Dämme und die vornehmsten Straßen und Wege bloß der Situation nach und ohne acute Abmessung in den Abriß gebracht werden“. Auf die Grenze und ihren Verlauf, auf ihre Festlegung und Vermessung aber kam es umsomehr an. Alle Streitigkeiten, die sich bei den Arbeiten vielleicht ergeben könnten, sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Punkt zehn besagt: „Da aber Gewalt dagegen gebrauchet werden wollte, haben die Beambte dieselbe mit Gegengewalt abzutreiben“. Auch sollte der Ingenieur mit der Kettenmessung „auf disseitiger Hoheit“ verbleiben.
Der erste Kartenentwurf, hier französisch brouillon genannt, war von den Beamten durch persönlichen Augenschein zu prüfen. Die Karten sollten nach Möglichkeit handlich im Gebrauch sein. So entstanden bei größeren Ämtern mehrere Karten unterschiedlichen Formats. Markierungen am Kartenrand sollten das Aneinanderfügen erleichtern.
Die Grenzvermessung und Grenzbeschreibung des Amtes Polle wurde in den Monaten Juli und August 1706 vorgenommen. Das amt war seit eh und je eine Exklave und von corveyischem, lippischem, waldeckischem und wolfenbüttelschem Gebiet eingeschlossen. Daher musste es von allen Seiten vermessen werden. Auch die Lage auf beiden Seiten der Weser und der ständige Wechsel von Berg und Tal erschwerten die Vermessungsarbeiten.
Der Grenzverlauf war durch Wege, Hecken, Quellen, Bäche und allein stehende „Malbäume“ (Buchen, Eichen, Ulmen, Ahornbäume) gekennzeichnet. Wo sie fehlten, traten „Mal- oder Schnatsteine“ mit eingehauenen Hoheitszeichen der beiden Grenznachbarn an ihre Stelle. Auf diese Weise ergaben sich im Amt Polle ringsherum eine Reihe von 117 Punkten, wobei sich Beginn und Ende in der Nähe des Forster Amtshauses auf beiden Seiten der Weser fast gegenüberlagen.
Was die alte Grenzbeschreibung von 1706 für den Heimatfreund der Gegenwart interessant macht, ist nicht der Verlauf der Grenze an sich. Der ist mehr oder weniger in den Landesgrenzen zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen/Lippe sowie in den Kreisgrenzen zwischen Hameln und Holzminden bis heute erhalten geblieben. Es ist vielmehr die Menge der Flurbezeichnungen, die uns über Dinge und Personen Aufschluss geben, die sonst längst vergessen wären. Während die Karte, die doch nach der Meinung ihres Zeichners „sehr exact“ sein sollte, nur wenige Flurnamen bringt, enthält die Grenzbeschreibung deren eine Fülle. Leider sind einige von unkundigen Beamten bei ihrer Übersetzung vom Niederdeutschen in Hochdeutsche in Form und Inhalt entstellt oder verdunkelt.
„Unter der Kolffte an der Weser beneben dem Hagen“ steht der erste Stein. Der noch heute oben an der Bundesstraße 83 zu bewundernde wuchtige Steinblock ist bereits Punkt fünf. Durch die Rehgrund, den Kandel, die Behrmannsgrund, das Schrindtal, das Geilental, die Wolfsgrund, über Sültegrund und Sültekamp, Luhmannsborn und Kirchenkamp führt der Grenzverlauf bis zum Brunnenspring unterhalb des Köterberges. Die „Eispfähle, ein kahler Placken zur rechten Hand“ (Punkt zehn), heißen richtiger „Eispfühle“, und die !Lichte Lied“ ist wohl eine helle Felswand, eine Leite, also ein Steilhang. Der Köterberg war und ist seit alten Zeiten ein Grenzberg.
„Bey einem alten verbrannten Buchenstamm (Punkt 20) stoßen die Hannöberische, Corfeysche und Lippesche Grentzen zusammen“. Vom Köterberg geht es hinunter „biß an das Falkenhägesche Holtz“. Punkt 28 ist „ein Eichenstuken am Wege, der aus dem Vogelsang nach des Landhauptmanns Wiese geht“. Die Flurbezeichnung Vogelsang, die eher den Gedanken an Frühlingsluft, Maiengrün und Vogelgezwitscher wachruft, war eine Stätte des Vogelfangs. Adelige Junker der Umgegend stellten hier, anderen Quellen zufolge, ihre tückischen Garne und Leimruten auf, um sich auf ihre Weise zu ergötzen. Neun solcher „Stellstäden“ befanden sich an diesem Ort.
Die erwähnte Wiese gehörte dem „Braunschweigischen Landeshauptmann des Hamelschen Quartiers“ Wilm Christian Geysen zu Polle. Wo „die Blanck- und Vale Luna, so beide kleine Wässerigen“, zusammenstoßen, war Punkt 30. Die Luna, auch Lonau genannt, mündet bei Polle in die Weser. Die Grenze führt über die „Bohlbrücke im Silbersiek“, den Falkenhagener Knick entlang, zum Hohlhöfels-Bach und trennte damals wie heute die Anwesen des Meyers und des Müllers in der Hünicher Grund.
Westlich von Vahlbruch bei den „lippischen Kämpen“ stießen die hannoversche, lippische und waldeckische Grenze zusammen. Punkt 68 war dort, wo „drei Mahlbuchen sich aufeinander finden“ . Zwischen Baarsen und Neersen auf waldeckischem Gebiet und Vahlbruch auf der hannoverschen Seite führte die Grenze auf Ottenstein zu „alwo – bei Punkt 84 – die Waldeckische Grenze sich endigt und die Wolfenbüttelsche wieder angeht“, durch das Blixental ging es weiter zum Lunborn.
Die Lumbornmühle wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Brevörde in die Nähe dieser Quelle verlegt. – Am Kleff entlang senkte sich die Grenze allmählich den Berg hinunter, überschritt den „Brevördischen Weg“, die heutige Bundesstraße 83, und erreichte Reileifzen gegenüber die Weser. Das Amt Ottenstein war mit dem Verlauf im Graver Feld nicht einverstanden.
„Es contradiret dagegen und praetendiret die Schnaat vom Riepenbusche in gerader Linie durch das Feld biß gegen die jenseits der Weser in Uhr alter Zeit gewesene Hegelmühle, und von dar mitten in der Weser hinunter biß gegen Reileibsen“. Durch diesen von Wolfenbüttel in Frage gestellten Grenzverlauf erfahren wir etwas über eine so genannte Henge- oder Hängemühle, die vermutlich bei der Brille auf der Weser oder hart am Ufer gestanden haben muss. (W. KLEEBERG bringt in seine Niedersächsischen Mühlengeschichte auf Seite 82 das Bild eine Hengemühle in Aschen, Kreis Grafschaft Diepholz. Durch Anfragen bei dem Verfasser und bei der Bundesforschungsanstalt für Getreideverarbeitung in Detmold waren leider keine näheren Einzelheiten über diese Mühlenart zu erfahren).
„Die Schnatbache, so hinter Reileibsen her bey Timmermanns Hause in die Weser fließt“, kennzeichnet den weiteren Grenzverlauf. Diesen Bach geht es hinauf „biß an eine kleine Bache, daß Wasserröhrigen genannt“. Zwischen dem Kapenberge und der polleschen Länderei führt die Grenze durch das Vorwerk- oder Querkental hinunter „biß auf eine Eiche (Punkt 115) unten am Berge vor der Forstischen Ambtskuhweide. Von dannen gleich über biß an die Weser, woselbst die in die Weser gelegte Forstische Schlacht (Punkt 116) sich geendet“. Das Amt Forst beanspruchte einen anderen Grenzverlauf, nämlich von der Eiche (115) über die alte Kalkröse (Punkt 117) und von dort zum Weserufer. Dadurch entstand ein umstrittenes Gebiet, das auf einer Nebenzeichnung der Hauptkarte unter der Überschrift „Dispute au pres de vorst en grand et chiffrèe du nombre des verges“, also in größerem Maßstab mit der Anzahl der Ruten, dargestellt ist. Es hat die Form eines unregelmäßigen Vierecks. Die Entfernung, in heutige Maße umgerechnet, betragen von der Eiche bis zur Weser rund 56 Meter, von der Eiche bis zur Kalkrödse rund 150 Meter, von dort bis zur Weser 84 Meter, und der Flussabschnitt misst rund 80 Meter. Auf dieser Strecke ist auf der Karte das deutsche Wort „Schanz“ eingezeichnet, das in der Grenzbeschreibung jedoch nicht erwähnt ist. Sie misst etwa 20 Meter im Geviert.
Die „Schlacht“, auch „Schlagd“, hat ihren Namen von einem ein geschlagenen Pfahlwerk, das der Uferbefestigung und daneben auch dem bequemeren Anlegen von Schiffen diente. In ihrer unmittelbaren Nähe ist der berüchtigte „Sooster Pott“ zu suchen, der manchem Schiff zum Verhängnis wurde. – Hier havarierte am 11. April 1818 das Schiff des Schiffers Bellmann aus Vlotho. In der Anklage der zuständigen Mündener Kaufmannschaft bei der Königlich-Groß-Britannisch-Hannoverschen Provinzialregierung wurde als Ursache die alte verfallene Schlagt mit ihren aus dem Wasser ragenden Pfählen genannt.
Die „Kalkröse“ (Kalkrose oder Kalkrese) bezeichnet eine Kalkröste, also einen Kalkofen, zum Zwecke der Kalkgewinnung. – Die „Schanze“ wird ein Erdwall gewesen sein. Sie lag auf hannoverschem Gebiet. Hier unmittelbar an der Grenze mag sie eine gewisse militärische Bedeutung gehabt haben. Nach SCHNATH „Die Herrschaften Everstein, Homburg und Spiegelberg“, Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1922, Seite 51 wurden in Holzminden am 19./29. Oktober 1678der Abschluss eines Hoheitsrezesses zwischen Braunschweig und dem Stift Corvey vollzogen, worin das Stift Braunschweig „die criminalis iurisdicto auf der Heerstraße im Brückenfelde und das Recht, dort Schanzen aufzuwerfen“, zugestand.
Aus der weiteren Grenzbeschreibung, die sich auf die Exklave Pegestorf bezieht, seien nur drei Punkte erwähnt. Punkt 118 liegt „über der Steinmühle, alwo der Hungerborn auß der Klippen fällt“. Damit ist der Quell gemeint, der das Mühlenrad treibt. Dann geht es „den Mühlenberg gerade hinauff nach der Eichen (Punkt 119), so auff der Klippen steht“. Punkt 123 ist der Ort, „woselbst die Egelbäke auf den Ufer schüßt“. Dieser Bach, der seinen Namen zweifellos von den in ihm lebenden Egeln hat, wird in einer Zeichnung der „Dölmer Gosse“ aus dem Jahre 1846 irrtümlich zum „Eichelbach“.
Die Grenzbeschreibung wurde in drei gleichlautenden Exemplaren ausgefertigt und von de Villiers, dem gewesenen Amtmann Joachim Niemeyer und den amtierenden Amtmann Georg Carl Kotzebue eigenhändig unterschrieben.
Der „Topographische Atlas“ von E. SCHRADER bringt in Nummer 136 einen Ausschnitt aus der Amtskarte von Villiers, nämlich den Flecken Polle und seine nächste Umgebung.
Quellen: Ungedruckte Quellen: Akten des Nds. Hauptstaatsarchivs Hannover/Hann. Des. 74, Polle 32
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