Das Dorfschulmeisterlein
Karleberhard Bruns
Es muss so um das Jahr 1921 gewesen sein. Ich verlebte die Ferien bei meiner Großmutter an der Oberweser.
Die dortige Schule unterstand einem sehr netten, etwas künstlerisch angehauchten Lehrer. Da er einen Sohn in meinem Alter hatte, durfte ich mit ihm spielen und auch einmal mit ihm zusammen die Schule besuchen. Damals war das Schulhaus auch gleichzeitig die Dienstwohnung des Lehrers. Doch so eine rechte Freundschaft konnte sich zwischen Helmut und mir nicht entwickeln. Ich lebte schließlich in einer weit entfernten Großstadt und kam ja auch nur in den Ferien nach dort.
Es vergingen Jahrzehnte. Nach dem Krieg traf ich den Lehrer und seine Frau wieder. Sie hatte ein sehr hartes Schicksal getroffen. Doch davon später.
Bei unserer Zusammenkunft meinte er: „Mein lieber Charls, ich habe mich aufgrund der vergangenen Ereignisse eingehend mit der Astrologie beschäftigt. Heute bin ich in der Lage, jedem sein Horoskop zu stellen. Dieses Hobby habe ich übrigens gemeinsam mit meiner Schwester, die Fürsorgerin in Braunschweig war. So stellte sich bei ihrem eigenen Horoskop heraus, dass ihr Leben im Jahre 1949 0der 50 durch Ertrinken enden werde. Sie ging dennoch im Sommer wieder einmal ins Schwimmbad und ist bei dieser Gelegenheit tatsächlich ertrunken. Sie sehen also, kein Mensch entgeht seinem Schicksal.“
Doch nun zurück zum Jahre 1939. Es konnte nicht ausbleiben, dass zuerst der Sohn Helmut und später auch Günter zum Kriegsdienst eingezogen wurden. 1941 erhielten dann der Dorfschullehrer und seine Frau eine furchtbare Nachricht und die lautete so: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Helmut vor Kiew gefallen ist. Wir haben ihn in der Nähe der alten psychiatrischen Klinik mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Er hat sich als tapferer Soldat für den Führer geschlagen. Mit Deutschen Gruß! Mayer, Kompaniechef.“
Die Trauer war damals sehr groß. Aber in den kleinen Gemeinden gedachte man wenigsten in der Kirche der für einen Wahnsinnigen gefallenen Soldaten.
Es ging dann einige Zeit ins Land. Der Sohn Günter, inzwischen auch eingezogen, auf ihn war man wahrscheinlich besonders stolz. Denn ihm war die große Ehre zuteil geworden, das Führerhauptquartier in Ostpreußen bewachen zu dürfen, was sich hinterher jedoch als großes Unglück herausstellen sollte.
Dort soll der dann in einen Spionagefall verwickelt gewesen sein und wurde standrechtlich – ohne Gerichtsverfahren – erschossen. Nach meinen Kenntnissen des Krieges und der Verhältnisse in höheren Stäben, ist die Angelegenheit etwas mysteriös. Es könnte natürlich auch sein, dass ihm alles so über war und er sich von der Truppe und seinem Auftrag entfernt hatte.
Aber so traurig wie das dem geneigten Leser auch erscheinen mag, die Familie hatte ja noch
die Tochter Birgit. Man lebte damals auf dem Lande recht und schlecht und als Lehrer hatte man ja auch einiges Ansehen.
Im Jahre 1945, der unselige Krieg neigte sich dem Ende zu, die alliierten Truppen näherten sich von Westen schon bedrohlich auch der Weser. Meine Familie war damals im gleichen Orte vakuiert und wir haben zu unserem großen Entsetzen die nachfolgenden Ereignisse hautnah miterlebt. Es war ja so, dass die Tiefflieger der Alliierten den Luftraum über dem reich voll beherrschten und kaum jemand sicher sein konnte, dass sie irgendwo auftauchten. So gingen Mutter und Tochter eines Morgens in die nahe Kreisstadt, um notwendige Dinge zu besorgen, wie man das damals so handhabte. Es existierten in kleinen Orten kaum Luftschutzbunker und wer rechnete da schon mit Fliegeralarm. An diesem Tag heulten plötzlich die Sirenen auf und man floh entsetzt von der Straße in irgendein Haus. So auch die beiden Frauen, nur lief jede in eine andere Richtung. Sie riefen sich noch zu: „Bring dich in Sicherheit, wir treffen und nachher wieder an der Baugewerkschule.“
So geschah es dann auch und als Entwarnung gegeben wurde, kam die Frau des Dorfschulmeisters aus ihrem Keller hervor, lief die Straße entlang, dem verabredeten Ziel zu. Doch schon nach einigen Schritten packte sie das blanke Entsetzen. Auf der Straße sie den Schuh ihrer Tochter liegen. Von dieser jedoch war nichts zu sehen. Was war geschehen? Auf der Flucht vor den Tieffliegern war Birgit erst von einem und dann später von mehreren Bordwaffengeschossen getroffen worden und hatte dabei schon den Fuß verloren.
Diese so arg geprüfte Familie musste nun sehen, wie sie die sterblichen Überreste von Birgit zumindest erst einmal nach Hause brachte. Inzwischen waren die Alliierten – es waren zuerst Amerikaner und später Belgier – bis in unsere Region vorgerückt und irgendwelche Transportmittel für Deutsche gab es da nicht.
das Lehrerehepaar brachte Birgit dann mit einem Handwagen über 12 Km von der Kreisstadt in ihr Dorf. Auch das Grab mussten sie selbst ausheben, da damals niemand von der Gemeinde gewillt oder auch in der Lage war, dies zu besorgen. Nachdem auf dem Friedhof alles vorbereitet war, bedienten sie sich wieder des Handwagens und haben dann ihre Tochter selbst beigesetzt.
Das Dorfschulmeisterlein ging in den fünfziger Jahren in Pension und lebte einigermaßen gut mit seiner Frau zusammen. Er widmete sich weiter seinem Hobby und bei einer solchen Gelegenheit versuchte er auch mir die Astrologie näher zu bringen. Dies war allerdings ein Versuch am untauglichen Objekt.
der Lehrer hatte aber noch einen besonderen Lebenswunsch. Er wollte einmal Palermo und die Insel Sizilien kennen lernen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon sehr krank war, willigte seine Frau in diesen Plan ein. Wer will auch einem kranken Menschen seinen Lebenswunsch verwehren. So flogen die beiden miteinander eines Tages über die Apeninen-Halbinsel bis zum ersehnten Ziel. Er hatte Palermo noch gesehen und ist dann dort unten in einem Krankenhaus verstorben.
Wenn ich da so an seine Schwester denke, kann ich mir kaum vorstellen, dass er nicht wusste, was bei dieser Reise geschehen würde. nur hat er sicher nicht bedacht, was er seiner Frau aufbürdete, die die sterbliche Überreste wieder an die Oberweser bringen musste.
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