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Zur Eröffnung der Austellung

Gisbert Tigges - neue Arbeiten

(Autor: P. C. Otte)


am 12 Juli 1998 im Kulturzentrum Schloß Bevern




„Neue Arbeiten“ so betitelt Gisbert Tigges seine Ausstellung, die wir heute eröffnen.

Ein Titel über den wir schnell hinweggehen, der sehr alltäglich erscheint; bei näherem Hinsehen jedoch einen wesentlichen Punkt im künstlerischen Schaffen des Malers Gisbert Tigges beschreibt.


Ich meine damit nicht unbedingt und absolut die heutige Ausstellung. Schon im Oktober 1996 hat er neue Arbeiten im „Alten Rathaus“ in Stadtoldendorf ausgestellt: Arbeiten als unmittelbare Vorläufer, bildlich eine Einheit, jetzt weiter geführt, ergänzt und entwickelt.


Neue Arbeiten zeigt Gisbert Tigges nach seinem Eintritt in den Ruhestand, nachdem er seine Arbeit als Kunsterzieher am Holzmindener Gymnasium beendet hat. Ein wichtiger Punkt in seinem Lebenslauf, ein wichtiger Punkt in seiner künstlerischen Arbeit. Eine Lasur, Kein Bruch, aber eine, befreit von der täglichen Notwendigkeit des Brotberufes, neue Konzentrationsmöglichkeit auf die Arbeit als Künstler und Maler.

So sind das „Neue“ die verstrichenen Jahre seit seinem Eintritt in den von intensiver Arbeit geprägten Ruhestand. Seit 25 Jahren begegnen mir die Arbeiten Gisbert Tigges’, doch heute, wo er seine Arbeiten als „Neu“ bezeichnet, wird sein künstlerischer Ansatz deutlicher als je zu vor formuliert.


In der Ankündigung dieser Ausstellung im Kulturspiegel ist der Text überschrieben mit „Regel und Emotion“. Kurz und prägnant ist hier die künstlerische Grundlage der „neuen Arbeiten“ benannt. In den Bildern tritt die Regel bestimmend hervor.

Bei einem flüchtigen Blick in die Ausstellung wird mancher Betrachter allerdings zunächst etwas irritiert sein.


Rätselhaft erscheint die komplette Vielfalt an Arbeiten in scheinbar uneinheitlichen Motivfolgen: Wir meinen große Stilunterschiede, offensichtlich gegensätzliche Gestaltungsauffassungen feststellen zu können: Bilder an den Naturalismus angelehnt, abstrahierende Kompositionen, erzählende, mit Collagen zusammengesetzte Arbeiten und gegenstandslose geometrische Bildkompositionen.


Wie geht das zusammen?

Eine Frage, die sich mir, wenn denn überhaupt, mit der Antwort auf die Frage nach dem Entstehen von Kunst, und nach dem Auslöser beim Einzeln beantwortet werden kann.


Kunst entsteht aus dem Zusammentreffen von individueller Erfahrung eines Menschen und seinen Gestaltungswillen. Sie ist ein inneres Erleben in einem virtuellen Raum. Bilder, Skulpturen und Objekte sind Abbildungen, Dokumentationen aus einem momentanen Prozeß, sichtbar gemacht durch sinnliches Erleben des Künstlers und durch die der Kunst innewohnenden Kommunikationsnotwendigkeit.


Kunst rückt somit an den tiefsten menschlichen Erfahrungen, beim Künstler wie beim Betrachter. Sie ist deshalb lebensnotwendig und eine der sozialen Grundlagen für das Leben in einer Gemeinschaft. Sie ist deshalb aber auch sehr verletzlich, dem Mißbrauch ausgeliefert und bedarf des Schutzes. Dieser ist durch die ständige Auseinandersetzung mit dem Umgebenden und die Reflektiontion in die Kunst gegeben.


Der Künstler ist immer der Reagierende, niemals der Agierende. Würde er agieren, wäre seine Kunst nur bloße Propaganda, im besseren Fall zur Werbung verkommen.

Gisbert Tigges beschäftigt sich mit vielen Dingen. Nachrichten aus dem Alltag, Literatur, Musik und mit alten Meistern der Malerei. Stößt er dabei auf ihn besonders interessierende Dinge, beginnt aus dem Auseinandertreffen von individueller Erfahrung und Gestaltungswillen eine (künstlerische) Auseinandersetzung mit diesen Dingen. Er reagiert, nimmt mit seiner Arbeit Stellung.


Wie Schriftsteller, Philosophen oder Musikern verarbeitet er seine Erfahrungen und Erlebnisse in bildender Gestaltung, deren Ergebnisse wir hier heute sehen. Seiner Ausbildung und Veranlagung entsprechend beginnt er seine Arbeiten, streng an der Natur orientiert; auf der Suche nach allgemeinen, das Einzelne betreffenden Aussagen, gelangt er zur Abstraktion und Konstruktion, die bis zur Gegegenstandslosigkeit führt.


Den Zeitpunkt, den Arbeitsprozessen zu beginnen, in die Arbeit einzusteigen, ihn fortzuführen, abzubrechen oder für beendet zu erklären, behält es sich vor. Ee entscheidet damit aber auch über Gegensätzlichkeit, Abstraktionsgrad oder Gegenstandslosigkeit, letztlich über den Stil. Damit sind wir jedoch schon bei der Emotion: am Beginn, mit dem Einstieg nach der Natur, ist es eine Regel, die Muster zu verlassen, sich der Sklaverei des Gegenstandes zu entziehen, wie er einmal so sagte, es ist ein Zustand der Gemütsverfassung, Emotion eben.


In und vor seiner Umwelt stehend, empfindet Gisbert Tigges die Natur und die Dinge als grenzenlos, als unbegreiflich, nicht erklärbar, solange als unfaßbar, bis ein Festpunkt verankert ist, um den sich die Bildkomposition aus Geometrie und Farbe aufbaut.


Die Komposition des Bildes erfolgt über die Geometrie. Dabei ist es gleichgültig, ob zunächst Form und dann Farbe oder zunächst Farbe in ihrer Ausdehnung und Wertigkeit festgelegt werden. Die Farbe, als Trägerin der Emotion, kann am Anfang stehen, wird sodann aber von der Regel, der Form gebändigt und gestaltet.


Ebenso ist der umgedrehte Vorgang denkbar: Die vorgegebene Form, die Regel, wird durch die Farbe in ihrer Bildbeherrschung begrenzt.


Farbe und Form, Emotion und Regel bedingen einander, gleichen sich aus und halten das Gleichgewicht. Der Wunsch nach Ausgeglichenheit und Gleichgewicht ist für Gisbert Tigges Anlaß und Hintergrund.


Eine Ordnung für Moral und Ethik unter Einsatz seiner bildnerischen Möglichkeiten zu suchen. Das Ziel, einen Rahmen für sichtliches Handeln zu schaffen, ist Ausgangspunkt seiner Malerei und innere Notwendigkeit. Ohne Erfüllung dieser Forderungen ist Ausgleich und Gleichgewicht, ist sinnvolles Leben nicht denkbar und Harmonie mit sich und der Welt eine Utopie. Das geometrische Element, das dieser Forderung qualitativ am nächsten liegt, ist für Gisbert Tigges das Quadrat.


Das Quadrat ist für ihn das absolut ruhende geometrische Element. Alle seine Arbeiten, von den natur-realistischen bis zu den Form- und Farbkompositionen unterwerfen sich der Flächenarchitektur des Quadrates; fast ist man geneigt zu sagen, der Diktatur des Quadrates.


Hierin liegt die Ruhe und Gelassenheit begründet, die von den Bildern ausgeht und die ihren Meditationsaspekt fördert.


Dreieck und Kreis sind für ihn schon Bewegungen, beim Komponieren mit diesen Geometrien ergibt sich eine Dynamik, die zunächst nicht erwünscht ist.


Elementare Grundlage der Komposition ist die Festlegung des Mittelpunktes - die Verankerung des Festpunktes: Sie erinnern an die Grenzenlosigkeit der Natur, die gefaßt werden muß, um ein Stück begreifbarer zu werden.


Der Mittelpunkt, der Festpunkt wird asymmetrisch verlagert. Darauf baut sich die Bildkomposition auf, Bildkomposition als Erkenntnisvorgang aus der Beschäftigung mit den Dingen. In den gegenstandslosen Bildern ist der Ausgang vom Quadrat als bestimmendes Kompositionselement am deutlichsten erkennbar. Das Quadrat soll eigentlich nicht zerstört werden, soll immer gegenwärtig sein.


Beim Kompositions-Vorgang entstehen aber Zacken, Sprünge, Risse und Versätze: Elementare Widersprüche. Die Ruhe und Ausgeglichenheit des Quadrates wird gestört durch eindringende Formen und Bewegungen. Auseinandersetzung wird sichtbar. Aus der Notwendigkeit des Handelns entstanden, entwickeln sich Formen und Farben, Regeln und Emotionen.


Einflüsse aus aktuellen, gesellschaftlichen, politischen und menschlichen Beziehungen werden während der Arbeit am Bild aufgenommen und verarbeitet.

Besonders deutlich wird dies an den Arbeiten mit von quadratischer Grundkomposition ausgehenden Collagen mit literarischen, naturwissenschaftlichen, technischen, historischen und politischen Aussagen. Sie werden eingebunden im quadratischen oder den Quadrat angelehnte oder nahe liegende Rahmenarchitekturen. Gegensätze werden so in eine Ordnung gezwungen, in die Ordnung des Quadrates, in die Verpflichtung zur Ausgewogenheit.


Die rasterartige Rahmengebung der Dinge ist für den Künstler der Versuch, die Welt in einem faßbaren Raum zu stellen und der Ordnung zuzuführen. Es wird aber auch ein Stück Lebensrealität abgebildet. Allgemein gültige Botschaften gibt es nicht. Die Kunst ist für den Künstler genauso wie für den Betrachter ein Mittel, um zu begreifen. Dabei ist das fertige Bild - besser die fertige künstlerische Arbeit wie sie gezeigt wird - für den Künstler, wenn auch nur vorübergehend, ein Endpunkt. Für den Betrachter ist sie ein Ausgangspunkt.


Eine Zeitlang hatte ich den Eindruck, daß Gisbert Tigges in seiner künstlerischen Arbeit sich in die völlige Gegenstandslosigkeit begeben würde, mit der Suche nach der realen, der einzigen Malerei. Die gegenstandslosen Arbeiten waren der Anlaß für diesen Eindruck. Damit wäre seine Funktion verloren gegangen und ich bin froh, daß dies nicht geschehen ist. Die Moderne hat sich erschöpft in der Suche nach der reinen und einzig wahren Malerei. Sie ist bis zu diesem Punkt einen weiten Weg gegangen, der zudem noch sehr beschwerlich war. Am Zielpunkt mußte sie schmerzlich feststellen, daß die „reine“ Malerei eine Sackgasse, sogar ein Irrtum war und entsprechende Vorstellungen oder Zwänge zu unschöpferischen Wiederholungen führten.


Heinrich Klotz, Verfasser für Kunstgeschichte schreibt: „Die Avantgarde war davon gescheitert, daß sie der Kunst ihren Kunstcharakter nehmen und das Fiktive durch Realität austreiben wollte, aber dennoch glaubte, die Kunst erhalten zu können“.

Vortells „Kunst ist Leben - Leben ist Kunst“ und Beuß’ Feststellung: „Jeder Mensch sei ein Künstler“, führten so manchen in die Irre und zu einer Beschränkung der Kunst auf funktionale Abläufe, beraubte sie ihr tatsächlichen Funktionalität.


Die anschließende Postmoderne lebte von Zitaten aus der Vergangenheit und hat keine Funktion entwickelt. Das zurückgerichtete Sehen hatte den Verlust von Handlungsrichtschnug und Idee und damit den Verlust der Funktion zur Folge.

Sie bewirkte jedoch eine Revision der Moderne, die von der Annahme, daß sich die Entwicklung der Kunst in Abfolgen von aneinander gereihten Epochen abspielt, vertrat. Der Rückgriff auf Stile und Epochen bei gleichzeitiger Projektion in die Zukunft, wie es heute geschieht, mit dem nicht nur die Ablösung des „Alten“ durch das „Neue“ erfolgt, legt meiner Meinung nach die Grundlage für die Entwicklung der Kunst.


Die 2. Moderne, wie die gegenwärtige ästhetische Situation von vielen Fachleuten benannt wird, schafft Möglichkeiten der Verbindungen von der Renaissance bis heute.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kommen Künstler zur Geltung, die den Bezug zur Natur nie aufgegeben hatten, abstrahierend arbeiteten und dem gegenstandslosen Kunstwerk „der realen Kunst“ wie Kondinsky es sagte, eine deutliche Absage erteilten und somit die Funktion in der Kunst und eine ästhetische Distanz zur Wirklichkeit aufrecht hielten. Gleichzeitig wird es dem einzelnen Betrachter ermöglicht, seine Sicht in den Kunstwerken wiederzufinden und sich dem Diktat eines absoluten Wahrheitsanspruches zu entziehen.


Die Beliebtheit großer Ausstellungen mit Picasso, Beckmann, Giacometti und anderen sind exemplarischer Beleg für die Vorgänge. Die „Neuen Arbeiten“ von Gisbert Tigges haben ihre Wurzeln im „Alten“ und im Heutigen, ebenso in Regeln wie in Emotionen. Ordnung und Suche nach dem Sinn an sich, sind Bestandteile und Grundlage der Kunst seit jeher gewesen. So schlägt Gisbert Tigges eine Brücke und findet neue Ansätze. Damit ist er mit seiner Kunst auf der Höhe der Zeit: ganz modern.


Peter Clemens Otte

Nante Sheriau auf der Poller Burg 1996 (II) Künstler in Polle - P. C. Otte - Oeuvre

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