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Ausblick in die Geschichte
der ehemaligen Grafschaft Everstein - Polle
Von Süden aus der Buntsandsteinformation des geologischen Mittelalters kommend, durchschneidet die Weser zwischen Forst und Bodenwerder den Muschelkalkblock des Wesergebirges, um dann in die Keupermulde der 3. Formation der Triasperiode, überzutreten. So entsteht in dem obigen Durchbruch ein Seitenstück zu dem des Rheins von Bingen bis Koblenz, das zwar diesen an Schroffheit und Großartigkeit nicht erreicht, ihn aber an Mannigfaltigkeit und Lieblichkeit übertrifft.
In der Mitte dieses Gebietes, da wo sich die Wesertalstraße mit der nicht minder wichtigen Detmold – Kreiensen – Goslar schneidet, liegt auf einem vorspringenden Jurasattel hoch über der Weser und inmitten eines in uralten Zeiten Niedergebrochenen Talkessels der Luftkurort P o l l e.
Das reizvolle Bergnest blickt aus dem Grün seiner Umgebung weit hinaus in ein Gebirgspanorama, das zu den schönsten des Weserberglandes gehört. Die hoch über den Straßen Polles aufragende Burg, jetzt eine malerische Ruine, war einst die Residenz der mächtigen Grafen von Everstein-Polle. Bevor Braunschweig hier erobernd vordrang, umfasste die Grafschaft fast den ganzen hannoverschen Kreis H a m e l n (ohne Pyrmont und den um die Ostseite des Ith herumgreifenden Landflügel). Dazu den größten Teil des braunschweigischen Kreises H o l z m i n d e n. Auch die Städte Hameln, Holzminden und Bodenwerder und zeitweise – 1337 ff – auch Lügde, gehörten dazu.
Die Geschichte der Grafschaft ist eng verbunden mit derjenigen der einst östlich anstoßenden Grafschaft H o m b u r g, deren etwa gleich großes Gebiet sich bis zur Leine erstreckte. Beide Grafschaften tauchen bald nach 1100 in den Chroniken auf. Die Grafschaft Everstein zeigt sich uns sofort mit fast sämtlichen heutigen und einer ganzen Anzahl weiterer Orte, die jetzt längst verschwunden sind, als reichbegüterte, mächtige Besitzung, der fast stets feindliche Bruder Homburg dagegen als armer, wenig hervortretender Graf. Aber im Lauf der Entwicklung wendet sich das Blatt. Die Grafen von Everstein sinken von ihrer Macht herunter, sie verlieren ein Gebietsteil nach dem anderen, bis sie schließlich besiegt und in Acht und Bann getan in ihrer tiefsten Erniedrigung 1408 auch den letzten Rest ihres Besitztums an Braunschweig abtreten müssen. Die Grafen von Homburg dagegen steigen langsam empor, sterben dann allerdings auf der Höhe ihres Ansehens ein Jahr nach dem Ende von Everstein-Polle im Jahre 1409 aus. Die Homburger wussten sich mit dem großen Bruder Braunschweig gut zu stellen, während die Eversteiner stets und in allen Fehden und Intrigen als dessen Gegner erscheinen.
Die Vorgeschichte des Gebietes ist leider völlig unbekannt. Nur die zahlreichen Klostergründungen des Oberweserberglandes von rund 800 ab, allerhand prähistorische Funde (um Polle herum etwa 12 Hünengräber) und einzelne Ereignisse aus den Kriegen Karls des Großen gegen unsere Vorfahren erhellen das fast völlige geschichtliche Dunkel, das über dieser Gegend vor jener Zeit liegt. Aus der Gau-Einteilung Karls des Großen kann die Grafschaft schwerlich hervorgegangen sein, denn deren Grenzen verliefen so, daß selbst das Zentrum der Grafschaft, das alte Amt Polle, noch ganz verschiedenen Gaugrafschaften und Erzbistümern zufiel.
Die Residenz der Eversteiner und die der Homburger lag ursprünglich in dem großen, strategisch wichtigen, von bedeutenden Verkehrsstraßen eingeschlossenen Gebirgsdreieck, dessen Ecken durch die Städte Holzminden, Bodenwerder und Stadtoldendorf gekennzeichnet werden. Hier hausten sie in bedrohlicher Nähe unmittelbar gegenüber auf 2 Bergen, die den beiden Grafschaften den Namen gegeben haben.
Zwischen ihnen lag eine weite Talmulde, in deren Mitte das Kloster Amelungsborn lag, das durch die beiderseitige Grenze, die „von der Mittelgote na dem Backhuse dorre“ lief, in zwei Teile geteilt wurde. Die mit den geschichtlichen Tatsachen nicht recht vereinbare Ermordung eines Homburger Grafen durch einen Grafen von Everstein kennzeichnet gut das gespannte Verhältnis zwischen den beiden Häusern. Die Eversteiner regierten, nur unter dem Kaiser stehend, augenscheinlich völlig unabhängig, doch scheint es so, als ob in noch früheren Zeiten einmal eine Oberhoheit der Braunschweiger bestanden hat, woraus vielleicht zum Teil deren späteres Bestreben entspringt, sich wieder in den Besitz der Grafschaft zu bringen.
Dennoch scheinen um 1200 herum die Beziehungen beider Länder sogar freundschaftlicher Natur gewesen zu sein, was auch wiederholte eheliche Verbindungen zwischen den Häusern Braunschweig und Everstein bekunden. 1182 findet sogar der durch Barbarossa geächtete Heinrich der Löwe mit seinen Mannen auf der Burg Ottenstein, nördlich von Polle, längere Zeit eine geheime Zufluchtsstätte. Die Geächteten wurden nachts von Everstein aus über die Brevörder Fähre mit allem Lebensnotwendigen versehen. Anscheinend sollte das vor etwaigem Ruchbarwerden durch eine Erzählung von häufig umherziehenden Zwergen, welche das Glessetal durchziehend die Brevörder Fähre benutzten, vertuscht werden. Jedenfalls wurde die Geschichte, die heute als Sage umgeht, damals überall geglaubt.
Als interessant mag hier noch eingeschoben werden, daß von der alten, bis auf die Grundmauerreste verschwundenen Sachsenburg kurz über Brevörde die Elsässische Burg-Niedeck-Sage in ganz ähnlicher Weise erzählt wird. Nur ist es hier der Riese selbst, der, die Weser überschreitend, auf dem drüben liegenden Blachfelde den Bauern findet, worauf seine Frau ihm zuhause die Weisung gibt, die „Ohrwürmer“ schleunigst wieder zurückzutragen, da die kleinen Wesen schlimmen Schaden stiften könnten.
Trotz vorübergehender Besserung des Verhältnisses scheint es so, als ob das anliegende Braunschweig früh sein Begehren auf die Grafschaft gelenkt hat, denn 1284, dem angeblichen Jahr der Hamelner Rattenfängerperiode, werden die beiden dicht beieinander liegenden Burgen der Eversteiner auf dem Everstein von Herzog Heinrich dem Wunderlichen belagert. Die Burgen wurden erobert und Braunschweig einverleibt, so dass die Grafen sich im folgenden Jahr veranlasst sahen, ihre Residenz auf die Poller Burg zu verlegen, die nach den Untersuchungen von Geheimrat Schuchardt und Professor Crome ihrem Typus nach aus dem 12. Jahrhundert stammen soll.
Bald nach dem Verlust von Bodenwerder 1245 gingen fast zu gleicher Zeit Hameln und Holzminden verloren. Hameln, über das die Eversteiner nur die Schutzvogtei besaßen, wurde von dem Abt zu Fulda, dem geistlichen Oberherrn der Stadt, an das Bistum Minden übergeben. Die Bürgerschaft von Hameln, im Bunde mit den Eversteinern, setzte sich zwar zur Wehr, sie wurde aber in der Schlacht bei Sedemünder von dem Bischof von Minden geschlagen, und die kampffähige Jugend Hamelns teils getötet, teils gefangen genommen, was später zur Bildung der Rattenfängersage führte. Hameln fiel dann bald darauf an Braunschweig.
Wenig später wurde Holzminden von den Eversteinern an den Erzbischof von Köln verkauft. Nach einigem Hin und Her finden wir die Stadt von etwa 1400 ab ebenfalls fest in den Händen der Braunschweiger.
Von Polle aus haben die Grafen von Everstein und Polle, wie sie sich jetzt nannten, etwa noch 130 Jahre ihr Gebiet beherrscht, dann starb der letzte Eversteiner Hermann VIII. ohne männliche Erben im Jahre 1413, und auch seine Stammburgen auf dem Burgberg bei Bevern wurden später von dem Abt von Amelungsborn, Gerhard von Masko, abgetragen. (1493)
Als Hermann VIII. merkte, daß er ohne männliche Erben sterben würde, schloss er 10 Jahre vor seinem Tode eine Erbverbrüderung mit seinen Freunden, den Lipper Herzögen, wonach für den Fall seines Todes die Grafschaft Everstein-Polle an Lippe fallen sollte. Kaum hörten die Braunschweiger davon, so brachen sie eine Gelegenheit vom Zaun, erklärten Lippe-Everstein den Krieg und drangen in deren Gebiet ein. Aber ihr Vorhaben schlug zunächst fehl; am Ohrberg bei Hameln wurden sie nicht nur geschlagen, sondern auch ihr Herzog Heinrich von dem Eversteinischen Hauptmann Ketteler gefangen genommen. Sie brachten ihn auf die Falkenburg bei Detmold, und ließen ihn nur gegen ein Lösegeld von 100 000 Gulden wieder frei. Erbost über den Misserfolg und die schlechte Behandlung verklagte der Herzog die Lipper und die Eversteiner beim Kaiser, der sie in die Acht tat, wodurch der von den Eversteinern mit Lippe geschlossene Erbvertrag hinfällig wurde. Die Braunschweiger drangen nun abermals in die Grafschaft ein und erstiegen am 1. Ostertag 1407, während die Besatzung schlief, mittels Sturmleitern von der Weserseite her die Poller Burg, die sie bis in die neueste Zeit nicht wieder hergegeben haben. 1408 wurde nach 4-jähriger Fehde zu Hameln der Friede geschlossen, bei welcher Gelegenheit Hermann VIII. seine einzige Tochter Elisabeth mit Herzog Heinrichs Sohn Otto verlobte, und ihr als Mitgift die Grafschaft Everstein mitgab, die damit endgültig und für verschiedene Jahrhunderte an Braunschweig fiel. Anfangs wurde das Gebiet durch Adlige im Auftrag des Herzogs verwaltet, von 1504 bis in die neueste Zeit durch einen in Polle wohnenden Amtmann.
Anscheinend haben die Besitzer der Poller Burg auch eine der zahlreichen Zollstellen innegehabt, bis 1823 bestanden am Weserlauf noch deren 23. Die mündliche Ueberlieferung erzählt, daß die Schiffer sich nachts gerne durchgemogelt haben, und daß ihr Stoßseufzer dabei war:
„wenn wir nur erst drüben an dem Poll vorüber wären“ (Poll = Bergkopf der Burg, daher Polle).
Bei weitem einschneidender als die Lippesche Fehde hat der 30-jährige Krieg die Entwicklung der Gegend und das Wesertal in seiner Eigenschaft als ständige Heerstraße unendlich schwerer leiden müssen als andere Gebiete. Bekannt sind hier vor allem die grauenhaften Blutbäder bei der Eroberung Mündens und Höxters, bei denen nur wenig Bürger dem Tod entgingen. Nach dem Kriege war fast der ganze Flusslauf verwüstet und entvölkert, und die Felder waren kaum noch angebaut. In Polle standen noch 58 zum großen Teil unbewohnbare Häuser, in Brevörde 27, in Pegestorf 36, in Holzminden gar nur noch die Kirche ohne Turm und 2 Häuser. Verschiedene Ortschaften waren ganz verschwunden. Zugvieh gab es überhaupt nicht mehr.
1623 erschien Tilly auf seinem Zuge gegen Christian von Dänemark vor Polle und eroberte nach heftiger Beschießung Burg und Flecken. Erst 18 Jahre später (1641) konnten die Kaiserlichen durch die Schweden wieder daraus vertrieben werden. Diese brachten ein schweres Geschütz auf den benachbarten Heimberg und schossen von hier aus ihre Kugeln so lange in die Burg, bis diese in Flammen aufging. Sie ist nicht wieder aufgebaut worden, sondern langsam weiter verfallen.
Als Ersatz für die Amtgebäude wurde gleich nach dem Kriege das mächtige Burghaus errichtet, das über seinem Portal noch heute das Braunschweiger Wappen führt. Auf dem hohen Dache sitzt der Braunschweiger Löwe und blickt drohend in die Richtung v. Lippe. Hat er auch die ehemaligen westlichen Feinde fernhalten können, die spätere Einverleibung Polles in die Provinz Hannover scheint er heute noch nicht begriffen zu haben.
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