Die Probleme des Geschichtsforschers

Der Quellenmangel

Die dreihundertjährige Geschichte der Eversteiner liegt in einem Zeitabschnitt, an den ein Familienforscher in den meisten Fällen nicht zu denken wagt. Die Kirchenbücher als die wichtigste Quelle der Genealogen beginnen gewöhnlich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, also in der Mitte des 17. Jahrhunderts oder später. Sie stehen für die Geschichte der Eversteiner also nicht zur Verfügung.

Natürlich fehlen auch Tagebuchaufzeichnungen, Memoiren oder Lebensbeschreibungen, die ein Chronist aus dem Erleben aufgeschrieben haben könnte. Dass z. B. Caesar die Ereignisse des Gallischen Krieges der Nachwelt schriftlich überliefert hat, ist ein besonderer Glücksfall. – Das Leben und die Taten Jesu von Nazareth wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgezeichnet, und da zeigen sich schon erhebliche Unterschiede in der Überlieferung und Darstellung. Ähnliches gibt es von den Eversteinern nicht. Wir sind ausschließlich auf sporadisch vorkommende Urkunden angewiesen, auf Verträge, Käufe und Verkäufe. Verpfändungen, Schenkungen, Stiftungen, die die Eversteiner unmittelbar betreffen oder in denen sie genannt sind.

Die erste Schwierigkeit besteht darin, diese Urkunden ausfindig zu machen. Sie werden und den Staatsarchiven gesammelt und aufbewahrt, in den Archiven der Kirchen, der Städte und Gemeinden, der Adelshäuser oder befinden sich in Privathand. Welch mühsame Aufgabe für einen Historiker ist es aber, den Namen eines Eversteiners zu suchen, der z. B. in einer Urkunde als Zeuge genannt ist, die in einem Stadtarchiv Süddeutschlands aufbewahrt sind. Es wäre eine Jahrhundertaufgabe, alle Urkunden und die darin genannten Namen, Orte und Inhalte zu registrieren, zu speichern und in einem Computer abrufbereit den Historikern zur Verfügung zu stellen. Davon kann noch keine Rede sein. Als H. Dürre die Urkunden der Homburger in den Regesten sammelte, kam er auf eine Zahl von 431, - 50 mal sind darin auch die Eversteiner genannt. Er musste aber bald eine Ergänzung herausbringen, denn es hatten sich weitere 79 angefunden, die noch irgendwo verstreut gelegen hatten. –Ein besonderer Glücksfall bewahrte und das Lehnsregister der Eversteiner aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Es befand sich im Staatsarchiv Hannover, und Professor Schnath schrieb zur Auswertung für seine Dissertation etwa 1922 ab. Das Original ging mit anderen wertvollen Beständen des Staatsarchivs im Zweiten Weltkrieg verloren. Die Abschrift blieb erhalten und gelangte in das Archiv zurück.

Für den Laien bestehen, was die alten Urkunden anbetrifft, weitere fast unüberwindliche Schwierigkeiten: Die Urkunden sind entweder in Latein abgefasst oder in einem mittelalterlichen Deutsch unterschiedlicher Dialekte. Das Latein ist nicht die klassische Ausprägung, wie sie in den Schulen gelehrt wird, sondern eine vielfach abgewandelte Form (Mönchs- oder Küchenlatein), in der die strengen Regeln der Grammatik nicht beachtet werden und die Wörter z. T. andere Bedeutungen haben. Auch das Deutsch der jüngeren Urkunden bereitet Schwierigkeiten, denn es ist von unserem Hochdeutsch recht verschieden. Rechtschreibregeln gab es noch nicht. – Sind die Urkunden bereits veröffentlicht, dann ist das Lesen erleichtert. Liegt aber nur das ursprüngliche von Hand geschriebene Schriftbild vor, dann muss sich auch der Fachmann mit jeder Urkunde und ihren Eigenarten vertraut machen und sich einlesen, um zum Verstehen des Inhalts vorzudringen.

In den Klöstern haben sich die Mönche oft die Mühe gemacht, Copialbücher anzulegen, Bücher mit den Abschriften von Urkunden, um sicherzugehen, dass die Besitzungen des Klosters belegt werden konnten, falls die Originale verloren gingen. Oft sind die Copialbücher noch vorhanden, oft aber absichtlich oder unabsichtlich gefälscht.

Unklarheiten bei Ortsnamen

Probleme bringen Ortsnamen mit sich, als man sich fast ausschließlich auf das gesprochene Wort verließ und die schriftliche Festlegung noch ohne Bedeutung war, unterlagen die Ortsnamen ständig der Wandlung. Wie konnte z. B. aus Odrekessen Oelkassen werden? Oft kann man nur mit Mühe einen Ort identifizieren. – Manche Ortsnamen kommen häufig vor wie z. B. Holzhausen=Holtensen=Holzen, so dass man nur schwer klären kann welches Holzhausen o. ä. gemeint ist. – Viele Orte sind wüst geworden. Wenn nicht andere Urkunden oder alte Flurnamen Hinweise geben, ist ihre Lage oft nicht zu bestimmen. Eine Hilfe bei der Lagebestimmung können die Namen der altsächsischen Gaue sein, falls sie angegeben sind. – Benachbart liegende Orte sind zumeist auch zusammen genannt, so dass man daraus den Schluss ziehen kann, um welches Holzhausen oder andere Orte es sich handeln dürfte. Der Historiker muss also bei der Auswertung von Ortsnamen mit aller Gebotenen Vorsicht zu Werke gehen und darf sich nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen.

Die Identifizierung der Person

Jeder Genealoge ist bemüht, einen möglichst weit in die Vergangenheit zurückreichenden Stammbaum oder eine möglichst vollständige und gesicherte Sippschaftstafel. Die wichtigste Grundlage sind für die Kirchenbücher und die standesamtlichen Register. Bei einem weit in der Vergangenheit zurückliegenden Geschlecht stehen diese nicht zur Verfügung. Man ist vielmehr auf Urkunden angewiesen, in denen die Angaben zur Person zumeist nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es ging darin um Kaufverträge u. ä.  Die dabei genannten Personen waren damals bekannt und dürften keiner zusätzlichen Identifikation durch Geburtstag, durch die Nennung der Eltern o. ä. Erläuterungen.

Wurde ein Kind geboren, dann dachte niemand daran, das Geburtsdatum irgendwo schriftlich festzuhalten. Wichtiger waren eventuell Heirats- oder Sterbedaten. Diese fanden möglicherweise ihren Niederschlag in Erbverträgen, Besitzverschreibungen, im Zusammenhang mit der Witwenversorgung usw.

Viele Namen sind nur aus Zeugenlisten bekannt. Aus einer Zeit, in der man noch nicht des Lesens und Schreibens kundig war, hatte sich die Sitte erhalten, einen Vertragsabschluss für die Zukunft durch eine große Zahl von Zeugen zu sichern. Dieser Brauch wurde noch lange bei schriftlichen Beurkundungen beibehalten. Viele der Eversteiner sind uns aus solchen Zeugenlisten bekannt. Natürlich fehlen auch hier nähere Angaben zur Person. Nur auf die soziale Stellung kann man daraus Schlüsse ziehen, denn die Zeugen werden genau in der Reihenfolge ihres sozialen Status aufgeführt. Zuerst werden die Geistlichen genannt, sodann die weltlichen Personen in der Reihenfolge ihres Ranges und Ansehens

Eine wichtige Quelle der Namen sind auch die Nekrologien, Verzeichnisse von Todestagen, an denen für bestimmte Personen, für die eine entsprechende Stiftung gemacht worden war, eine Totenmesse gelesen werden musste. In diesen Totenbüchern ist aber nur der Sterbetag angegeben, nicht das Sterbejahr, das sich möglicherweise nur aus weiteren Angaben lässt. Personen mit gleichem Vornamen lassen sich aufgrund der Nekrologien kaum unterscheiden (sieh Seite 7).

Oft sind bestimmte Personen überhaupt nur einmal erwähnt, so dass man, auch wenn man ihre Lebenszeit ungefähr eingrenzen kann, nicht weiß, in welchen Zweig der Familie sie einzuordnen sind.

Eine weitere Irritation ergibt sich daraus, dass die Verwendung von Familiennamen sich noch nicht allgemein eingebürgert hatte. Noch heute ist in den Herrscherhäusern z. T. üblich, dass nur der Vorname genannt wird (Queen Elizabeth). Ein Zusatzname war nur bei gleichen Vornamen mehrerer Personen zur Unterscheidung erforderlich, der Vatersname, der Hausname, ein „Spitzname“ aufgrund eines besonderen Charakteristikums (der Schwarze, der Einäugige o. ä.) oder, wenn jemand aus einem entfernten Ort stammte, der Name des Herkunftsortes. Daher die zahlreichen Familiennamen, die mit einem Ortsnamen identisch sind, früher ergänzt „von“ oder „de“, welche nicht unbedingt das Adelsprädikat bedeuten mussten.

Aus dieser Praxis ergibt sich aber, dass der Ortsname als Zusatz mit dem Wohnungswechsel geändert werden konnte So nannten sie die Eversteiner nach der Aufgabe der Burg Everstein „von Polle“ oder „von Ohsen“ im günstigen Fall „Graf Everstein von Polle“. Diese Art der Namensänderung ist zu unseren Bedauern einerseits schuld daran, dass wir nicht wissen, woher sie  gekommen sind. Der Name eines früheren Wohnsitzes ist uns nicht bekannt. Anderseits lässt sich bei späteren Wohnsitz- und Namensänderungen die Verbindung zu den Eversteinern nicht nachweisen. Schließlich ist es aber auch vorgekommen, dass sich Ministerialen, die mit der Verwaltung der Burg beauftragt waren, „von Everstein“ nannten, obgleich sie mit dem eigentlichen Geschlecht der Eversteiner nicht verwandt waren. – Wenn, wie Pöppel in seiner Chronik von Bad Driburg annehmen zu können glaubt, die Eversteiner von dem Grafengeschlecht Werl/Arnsberg abstammen, dann müssten sie diesen Namen abgelegt und damit ihre Herkunft verdunkelt haben. – In einem Fall ist bekannt, dass sich zwei Brüder nach ihrer Mutter „von Everstein“ nannten, auf deren Abstammung sie offenbar besonders stolz waren.

Einen gewissen Anhalt zur Klärung der Familienzugehörigkeit geben die Vornamen. In den Familien waren bestimmte Vornamen üblich, bei den Eversteinern Otto, Albert oder Albrecht, Konrad, Berthold und Hermann. Die Ebersteiner auf der Burg Eberstein bei Fulda verwendeten andere Vornamen, so dass sich schon daraus eine fehlende Verbindung vermuten lässt. Im Stammbaum der schwäbischen Ebersteiner kommen Namen Adelbert, Berthold und Hermann vor. Eine Beziehung zu ihnen wäre also denkbar, sie lässt sich aber nicht nachweisen.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die Aufstellung einer Sippentafel der Eversteiner große Risiken in sich birgt. Deshalb soll auch im Rahmen dieser Arbeit darauf versichtet werden.

Das Problem der Zeitbestimmung

Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Personen war schon gesagt worden, dass es oft nicht möglich ist, die Lebenszeiten genau anzugeben. Auch andere Ereignisse können zeitlich oft nur mit Mühe und unzureichend datiert werden. Das hat verschiedene Ursachen: So gibt es Urkunden, bei denen das Ausstellungsdatum fehlt. Mit detektivischen Scharfsinn lässt sich aus den darin genannten Personen oder aus besonderen Umständen, eventuell auch aus der Schrift oder der Art der Abfassung das Datum erschließen.

Die Totenbücher der Klöster, die Nekrologien, sind zumeist eine wichtige Fundgrube für bedeutende Persönlichkeiten und weitere wesentliche historische Erkenntnisse. Sie haben aber einen Nachteil, die Mönche waren nur daran interessiert, den Sterbetag festzuhalten, weil an diesem jährlich wiederkehrenden Datum eine Totenmesse gelesen werden musste. Das Sterbejahr war ihnen unwichtig und wurde nicht vermerkt. Man kann es daher nur aus anderen Quellen entnehmen oder mit ihrer Hilfe einkreisen. Wenn also jemand ein gewisses Alter erreicht haben musste, das über die normale Lebenserwartung hinausgeht, oder wenn er nicht mehr erwähnt wird, dann musste er wohl in dieser Zeit verstorben sein.

Die Entstehungszeit eines Klosters ist unsicher, wenn nicht bekannt ist, welches Datum dafür maßgebend gewesen sein könnte, entweder das der Stiftungsurkunde, das Jahr des päpstlichen Privilegs, der ordensrechtlichen Gründung oder schließlich des Einzuges des ersten Mönchkonvents. Für die Entstehung des Klosters Amelungsborn wird das Jahr 1120 genannt oder 1135 das des Einzugs des Konvents.

Andere Differenzen tauchen bei der Angabe von Daten hinsichtlich des Baues von Burgen, Kirchen o. ä. Sie wurden niemals innerhalb eines Jahres errichtet. Gibt eine überlieferte Jahreszahl den Zeitpunkt des Baubeginns oder der Fertigstellung?

Natürlich stößt man bei Jahresangaben auch auf offensichtliche Irrtümer. So kann aus einer Urkunde hervorgehen, dass ein Ereignis zur Zeit eines bestimmten Grafen geschehen ist, während sich aus einer anderen ergibt, dass dieser zu dieser Zeit schon nicht mehr lebte.

Neben harmlosen Schreibfehlern, mit denen man selbstverständlich auch rechnen muss, kommen absichtliche Fälschungen vor. So haben zuweilen Autoren die Lücken in der Geschichte mit eigenen phantasievollen Zutaten ausgefüllt. In den Bereich der Kriminalität aber gehören Urkunden, die gefälscht wurden, um angebliche Anrechte auf Besitzungen zu dokumentieren. Es gehört oft viel Scharfsinn dazu, solchen Betrügereien auf die Spur zu kommen.

Die Geschichte der Eversteiner

Die Eversteiner und ihre Zeit



Ihr Herrschaftsbereich an Diemel und Oberweser


Von Fr. Schreiber





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